Rollenbiografie Ramon – Ein Schatten wie ein Leopard

Nachfolgend findet sich ein Beispiel einer Rollenbiografie der Figur Ramon aus dem Buch „Ein Schatten wie ein Leopard“:

Mein Name ist Ramon Santiago und ich bin 14 Jahre alt. Wenn ich mich beschreiben würde, würde ich sagen, dass ich sehr unscheinbar wirke. Ich bin dünn und nicht sehr groß.
Mein Körper ist so klapprig, wie der von einer Marionette. Die Knie und Ellbogen von mir sind total knochig und meine Kleider werden mir zu klein, weil ich wohl gewachsen bin. Einmal hat jemand zu mir, „ kleiner klappriger Mann“, gesagt.
Wenn ich lange Strecken renne, fühle ich mich schnell zittrig und mir wird schwindelig.
Das ist ja auch kein Wunder, da unser Kühlschrank meist leer, oder mit verdorbenen Lebensmitteln gefüllt ist und ich meist hungrig bin. Aber davon erzähle ich später noch etwas mehr. Ich wohne in den USA, in New York, in der Neunten Straße, Ecke Neunundvierzigste.
Meine Eltern sind Puerto Ricaner und können spanisch, was auch meine Muttersprache ist.Sie sind schon lange vor meiner Geburt von Cantaño/Puerto Rico nach USA/New York ausgewandert. Mein Vater Carlos sitzt seit einem Jahr im Gefängnis Attica, im Norden, seine dreijährige Haftstrafe ab. Er hat bei einer Demonstration einen Polizisten bedroht und angegriffen. Warum war er damals so wütend und hatte sich nicht unter Kontrolle? Allein bei dem Gedanken ballen sich meine Hände zusammen und ich möchte jemand schlagen, aber es ist niemand da, den ich schlagen kann. Früher hat mich mein Vater mit nach Coney Island genommen und später, als ich älter wurde und finanzielle Probleme aufkamen, hat er sich total verändert. Er hat sich immer mit meiner Mutter gestritten, hat immer geschrien  und mich nicht mehr als sein Sohn gesehen. Als Mädchen und als dünnen Zwerg hat er mich bezeichnet. Er war ein richtiger Macho und wollte, dass auch ich ein Macho werde, ein Macho wie er. Einmal war ich so wütend auf ihn, dass ich auf ihn eingeschlagen habe. Das war, als er mein Notizbuch entdeckte, dass ich immer bei mir trage, genauso wie mein Messer in der Hosentasche. Er hat mich ausgelacht, gesagt: „Schreibt blödes Zeug in ein Buch! Weichling! Mädchen!“, dabei hat mir ein Lehrer vorgeschlagen meine Gedanken niederzuschreiben. Als ich mich damals gegen  meinen Vater gewehrt habe, hat er mich dafür sogar noch gelobt, er meinte, „vielleicht habe ich doch einen Sohn, einen Macho“. Er sagte zu mir, „wenigstens hast du so viel Mumm um zu kämpfen, deine Ehre zu verteidigen“. Genug von ihm erzählt, jetzt möchte ich von meiner Mutter erzählen,
die im Westside Hospital wegen einem Nervenzusammenbruch liegt. Sie ist abgemagert, verweigert die Nahrungsaufnahme und hat deshalb einen Schlauch im Arm, über den sie ernährt wird. Sie wird dort schlecht behandelt und gepflegt, weil sie von der Wohlfahrt lebt. Sie ist nicht ansprechbar und ich habe das Gefühl, dass sie nur mit meinem Vater wieder nach Puerto Rico will. Wenn ich sie besuche, bringe ich ihr  immer ein Geschenk mit, das ich hart erarbeiten muss und das sie nicht einmal wirklich wahrnimmt. Sie sagt immer Carlos zu mir und nimmt mich nicht als ihren Sohn wahr.  Das macht mich wütend und zugleich traurig. Ich verstecke mein Messer genauso wie früher vor ihr, weil sie das Messer hasst. Früher war sie eine geschäftige Hausfrau und eine richtige fürsorgliche Mutter. Sie hat gekocht, zur Radiomusik gesungen und gute Laune verbreitet. Ich glaube sie wird nie wieder nach Hause kommen. In meinen Tagträumen träume ich von einer intakten Familie mit einem großen Haus, ohne Geldsorgen und von Geschwistern, die ich leider nicht habe.
Wegen dieser ausweglosen Situation schwänze ich schon seit mehreren Wochen die Junior High School, weil ich meinen Lebensunterhalt verdienen und mich selbst versorgen muss.
Reich waren war noch nie, doch früher ging es uns recht gut. Aber mein Vater meinte, dass er für seine Arbeit noch nie angemessen bezahlt wurde und hat sich ausgenutzt gefühlt. Ich hatte aber trotzdem immer das Gefühl, dass wir eine Familie sind. Heute lebe ich ohne meine Eltern, in einem Armenviertel, in dem eine hohe Kriminalitätsrate herrscht und in dem es sehr viele Betrügereien und Schwindeleien gibt. Die Gegend gehört nicht gerade zu den schönen Ecken von New York, sie ist schmutzig und vermüllt. Trotzdem ist mir die Gegend so vertraut wie mein Wohnzimmer. Es gibt natürlich schönere Ecken in New York, z.B. die Fifth Avenue am Broadway, die Gegend der Wohlhabenden, aber dort fühle ich mich unbehaglich, dort gehöre ich nicht hin. Dort schäme ich mich für meine Kleidung, mein Gesicht, meinen Körper und dafür, dass ich Puerto Ricaner bin. Das Haus in dem ich wohne ist in der Neunten Straße, Ecke Neunundvierzigsten in einem Hochhaus. Unsere Möbel könnte man auch Plunder nennen, in der Küche leben Küchenschaben und wir haben zurzeit keinen Strom, da er uns wegen Geldmangel abgeschaltet wurde. Unsere Wohnungstür ist halb aus Luft gemacht, „die solltest du mal sehen“! Wenn ich unseren schäbigen Kühlschrank öffne, begegnen mir dort nichts als Küchenschaben und verdorbene Lebensmittel. Wenn ich da mal rauskomme, raus aus diesem Elend, möchte ich nichts davon haben. Nur ein Stück ist mir wichtig. Es ist ein alter Spiegel. Meine Eltern haben ihn schon lange vor meiner Geburt aus Puerto Rico mitgebracht. Die Silberbeschichtung ist schon abgelöst und er ist mit Rostflecken übersät. In den Ecken, im Holzrahmen, kauern geschnitzte Tauben, bereit wegzufliegen. Alles werfe ich weg, nur diesen Spiegel nicht, den brauche ich zum üben, zum üben mit meinem Messer. In dem Hochhaus wohnt auch Mrs. Garcia. Sie kennt meine Eltern sehr gut und hat sich nach dem Gesundheitszustand meiner Mutter erkundigt. Sie hat mir angeboten, bis meine Mutter heimkommt, bei ihr zu bleiben und dass ich jederzeit an ihrer Tür läuten kann, wenn ich Hilfe brauche. Mrs. Garcia und alle anderen Nachbarn vermissen meine Mutter, sowie ihren Gesang und ihre lebendige Art, die sie früher hatte. So sieht zur Zeit meine Lebenssituation aus. Mein Messer das ich immer bei mir trage, habe ich ja schon erwähnt. Es gibt mir Kraft und ich fühle mich stark und sicher damit. Ich bin der schnellste im Umgang mit dem Messer in Harpo’s Gang. Das sind ein paar kriminelle Jungs die mit Raubüberfällen ihr Geld verdienen. Ich bin mir nicht sicher, ob ich zu dieser Gang passe, aber ich möchte ein Macho sein wie mein Vater, und wenn ich erst mal in der Gang aufgenommen bin, habe ich das vielleicht geschafft. Wenn ich nachdenken möchte, ziehe ich mich an meinen Nachdenkplatz zurück und habe dort oft Tagträume.
An diesem Platz kann ich all das Elend um mich herum ausblenden und in die Rolle eines anderen Jungen schlüpfen, mit anderem Namen, an einem anderen Ort, an dem ich noch nie war. An diesem Platz schreibe ich auch oft meine Gedanken und Gefühle in mein Notizbuch nieder. Vielleich hilft mir das bei meinem Wunsch, später einmal wohlhabend zu sein, eine intakte Familie zu haben und ein TV Schreiber zu werden. Ob bekannte TV Schreiber auch einmal so angefangen haben? Sogar Glasser, der in der Amsterdamer Avenue zur Vierundachtzigsten Straße wohnt, hat einmal zu mir gesagt, dass ich ein dichterisches Naturtalent sei. Glasser, den ich ausrauben wollte und der mir verziehen hat. Der belämmerte Luis, der bei Hansens Markt als Auslieferer arbeitet, gibt Harpo’s Gang immer die Tipps mit den reichen Leuten und bekommt dafür einen Anteil der Beute. Er hat mir die Adresse von Glasser gegeben und ich sollte ihn ausrauben um der Gang zu beweisen, dass ich dafür nicht zu jung bin. Leider musste ich feststellen, dass Glaser genauso arm ist wie ich es bin und dass er auch von der Wohlfahrt lebt. Die Gang die mir das nicht glauben wollte, redete mir ein, dass ich mich an der Nase habe herumführen lassen. Nachdem ich Glasser ein zweites Mal aufsuchte, fest entschlossen war das Geld zu finden und Glassers ganzes Apartment durchwühlte, musste ich dann doch feststellen, dass Glaser wirklich nichts an Geld besitzt. Er ist ein Maler der früher berühmt war, aber nie wirklich erfolgreich wurde und sich selbst als Versager seiner Kunst sieht. Ich habe mich bei Glaser entschuldigt und ihm gesagt, dass es mir leid tut was ich getan habe und sein Apartment wieder aufgeräumt. Ich habe ihn für seine Gemälde gelobt, ich finde sie echt toll, mit den vielen verschiedenen Farbschichten.  Ich habe mit ihm einen Deal abgeschlossen, dass ich die Bilder verkaufen will und wir den Gewinn teilen. Das ist eine lange Geschichte, die von Glasser und mir, da müsste ich jetzt sehr weit ausholen, um sie genau zu erzählen. Jedenfalls habe ich beim Verkauf der Bilder festgestellt, dass ich sehr gut lügen kann und dass ich echt mutig war und mich getraut habe in der Fifth Avenue etwas zu verkaufen. Vier von seinen Gemälden habe ich schon verkauft. Beim Verkauf hat Angel mich beobachtet und ich habe ihm erzählt, dass Glaser nichts außer Bilder und Büchern besitzt und dass ich mit ihm einen Deal habe. Ich habe Angel die Hälfte meines Anteils gegeben und ihm gesagt dass die Gang sich das Geld aufteilen soll. Danach habe ich Lebensmittel eingekauft und bin zu Glasser, der einen gut riechenden Teppich  im Vorraum hat,  gegangen. Ich fange an mich hier wohl zu fühlen und auf jeden Fall ist es so, dass  Glasser für mich immer mehr zur Bezugsperson wird. Ich habe für uns gekocht und sogar schon bei ihm übernachtet. Er will mit mir ins Metropolitan Museum of Art gehen und mir Gemälde von Rembrand zeigen. Er sagt: „Wir haben den Magen gefüttert. Jetzt lass uns die Seele füttern.

Seit der letzten Begegnung mit Angel habe ich von Harpo und den anderen aus der Gang, nichts mehr gehört. Ich bin heilfroh, dass mich Angel und auch sonst keiner der Jungs  verfolgt hat, als ich in Glasser Appartementhaus hineingegangen bin.

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